Innerer Bauplan

In der entwicklungspsychologischen Literatur lassen sich zwei traditionelle Entwicklungstheorien unterscheiden: die exogenistische und die endogenistische. Erstere besagt, Entwicklung wird durch äußere Faktoren verursacht und gesteuert. Das bedeutet, dass erzieherische Einflussnahme auf Art und Gang der kindlichen Entwicklung erheblichen Einfluss hat. Letztere betrachtet Entwicklung als Entfaltung eines inneren Bauplans des Werdens, auf den äußere Faktoren entweder gar nicht oder nur insofern einwirken können als das genetische Entwicklungsprogramm innerhalb bestimmter Zeitspannen bestimmte Einflüsse zulässt.

Neueste Modelle gehen davon aus, dass Mensch und Umwelt als Teilsysteme eines Gesamtsystems zu betrachten sind, die miteinander in Beziehung stehen und aufeinander Einfluss nehmen. Veränderungen des einen Teilsystems ziehen Veränderungen des anderen nach sich und umgekehrt, sodass sich mit der Änderung des einen Teilsystems zugleich das Gesamtsystem verändert. Entwicklung ist daher nicht die ausschließliche Folge der Eigenaktivität des Einzelnen, sondern das Ergebnis einer Wechselbeziehung bzw. einer Interaktion zwischen einem selbsttätigen Subjekt und einem diese Tätigkeit beeinflussenden Kontext. So trägt z.B. das Kind, indem es sich für diesen oder jenen Freund, für diese oder jene Beschäftigung, für dieses oder jenes Buch, Hobby, Schulform etc. entscheidet, selbst erheblich zur Art seiner Entwicklung bei. Da jedoch seine Umgebung nur bestimmte Wahlmöglichkeiten zulässt oder bereithält und andere ganz oder teilweise ausschließt, werden die Interessens- und Begabungspotenziale des Kindes teils eingeschränkt, teils modifiziert, was sich wieder auf seine Entwicklung auswirkt. Dadurch entsteht eine Art “Zirkulärreaktion” (J. Piaget), bei der sowohl dem Entwicklungssubjekt als auch dem Entwicklungskontext Gestaltungsfunktion zukommt.

Die jüngere Forschung folgt weder der einen noch der anderen Theorie. Sie betrachtet vielmehr das Individuum selbst als Gestalter seiner Entwicklung, das durch reales und symbolisches Handeln und den daraus sich ergebenden Erfahrungen seine geistigen Strukturen aufbaut, modifiziert und umstrukturiert. 

Welchem Modell ist Montessoris Entwicklungsbegriff zuzuordnen? Vieles spricht dafür, dass für sie Entwicklung das Ergebnis einer Wechselbeziehung von Mensch und Umwelt ist, wobei das Kind seinen Aufbau zwar selbst, aber in Abhängigkeit von seiner Umgebung leistet. Für diese Annahme sprechen folgende Aussagen:

Sie bezeichnet das “Kind als Baumeister des Menschen”, womit sie dem Kind kreative Selbstgestaltungskräfte zuschreibt. Sie spricht vom “Kind als geistigem Embryo”, das sich nur in Abhängigkeit von seiner geistigen und materiellen Umwelt entfalten kann. Sie betrachtet in ihren Ausführungen über die “Kosmische Erziehung” den Menschen als Teil eines kosmischen Ganzen, der nur in Abhängigkeit von Natur, Kultur und Gesellschaft die Ausprägung der eigenen Persönlichkeit vollbringen kann, wie umgekehrt seine Bildung nur gelingen kann, wenn er durch sein Werk zur Lebensmöglichkeit des Ganzen beiträgt. Sie lässt durch einen Kindermund das Grundanliegen ihrer ganzen Pädagogik aussprechen: “Hilf mir, es selbst zu tun” und unterstreicht damit die Bedeutung der Wechselseitigkeit von Mensch und Umwelt für die Entwicklung des Kindes.

Folgt man dieser Argumentationslinie, so versteht Montessori unter Entwicklung einen in höchstem Maße kreativen Gestaltungsprozess, der ausschließlich vom Kind selbst geleistet wird, den es aber nur leisten kann in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt.

Montessori hat drei für die Entwicklung des Kindes unerlässliche Faktoren richtig erkannt:

Erstens ging sie von der heute als gesichert geltenden Erfahrung aus, dass die Natur den Menschen nicht von Anfang an mit einem voll leistungsfähigen, sondern mit einem in hohem Maße plastischen und auf Erfahrung angewiesenen Gehirn ausgestattet hat.

Zweitens hat sie aus eigenen Beobachtungen an Kindern und in der Natur den richtigen Schluss gezogen, dass die genetischen Potenziale des Menschen ihre volle Funktionsfähigkeit nur innerhalb zeitlich begrenzter, sog. sensibler Phasen erlangen. Die Voraussetzung ist, dass die zu ihrer Optimierung erforderlichen Umweltfaktoren während dieser Zeit vorrangig und ungestört verfügbar sind und exakt den Entwicklungsbedürfnissen entsprechen.

Drittens hat sie richtig erkannt, dass die Auf- und Ausbauphase sowohl der höheren Hirnfunktionen als auch der gesamten Persönlichkeit einer anhaltenden Aktivierung bedürfe. Damit bestimmte Gruppen von Nervenzellen sich auf Dauer verknüpfen können, müssen sie in der Zeit der “sensiblen Phase“, also in der Zeit, in der sie auf umweltabhängige Informationen angewiesen sind, aktiviert werden. Bleibt die Aktivierung aus, entfällt die Vernetzung und die Entwicklung bleibt unvollständig. Ein ähnlicher Vorgang findet nach Maria Montessori auch in allen übrigen Bereichen des Persönlichkeitsaufbaus statt.

Damit lösen sich auf relativ einfache Weise die scheinbaren Widersprüche in Montessoris Entwicklungstheorie: Es liegt im Plan der Natur, das Entwicklungspotenzial des Menschen in einem nur unvollständigen, jedoch höchst plastischen Zustand angelegt zu haben. Erst durch erfahrungsabhängige, auf Aktivierung angewiesene und phasenspezifische Reifungsprozesse kann eine optimale Leistungsfähigkeit einzelner Funktionen und ein optimaler Entfaltungsprozess einzelner Interessen und Begabungen stattfinden. Welches die jeweils optimalen Umweltbedingungen während der verschiedenen „sensiblen Phasen“ sind, lässt sich nicht exakt festlegen. Zwar ist durch zahlreiche Beobachtungen bekannt, dass Kinder in bestimmten Zeitabschnitten, und nur in diesen, für bestimmte Lerninhalte besonders empfänglich sind. Aber da darüber hinaus jedes einzelne Kind über individuelle Neigungen, Vorlieben, Interessen und Begabungen verfügt, die sich auf individuelle Weise in sensiblen Phasen äußern, bleibt Beobachtung der einzige Weg, um ihnen dementsprechende Angebote zu machen.

Die Annahme, kindliche Entwicklung verlaufe in Stufen, übernimmt M. Montessori von W. Stern und Ch. Bühler. Das Einteilungsschema stammt jedoch bereits aus der Antike, in der die Entwicklungsstufen an den äußerlich feststellbaren Veränderungen des Kindes festgemacht wurden: Mit drei Jahren Beginn der Sprachfähigkeit; mit sechs Jahren Beginn des Zahnwechsels; mit zwölf Jahren Beginn der Pubertät; mit 18 Jahren Beginn des Erwachsenenalters.

Dass es sich hier nur um ein allgemeines Schema handelt, war auch Montessori bewusst. Zwar hält sie an den Altersangaben fest, verfolgt aber bei der Beschreibung der für die einzelnen Entwicklungsstufen typischen Merkmale einen bis dahin unbekannten Weg. Kennzeichen der Entwicklung sind für sie die auf jeder Stufe sich äußernden typischen sensiblen Phasen, also jene noch weitgehend unbestimmten und lediglich als Möglichkeiten (Potentialitäten) vorhandenen psychischen Bereitschaften, Neigungen, Interessen, die sich bei entsprechender Aktivierung zu eindeutigen Fähigkeiten und Begabungen entwickeln.

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