Kosmische Erziehung

Geprägt durch ihr christliches Weltbild waren für Maria Montessori Vertrauen, Liebe und Achtung gegenüber jedem Kind unabdingbare Voraussetzungen für pädagogisches Handeln. Auf diesen Werten gründet sich bis heute unser Respekt gegenüber der „Schöpfung“, d.h. der unverletzbaren Würde des Menschen und seines Eingebundenseins in Natur und Gesellschaft. Die Forderung nach Nachhaltigkeit ist dabei aktueller denn je. Im Rahmen der "Kosmischen Theorie" erfährt sich das Kind als akzeptierten Teil der Schöpfung und erkennt, dass es wertvoller Teil eines Ganzen ist, den es genau deshalb auch zu schützen gilt. So entwickeln die Kinder ein Bewusstsein für ihre Stellung und ihre Verantwortung in der Welt.

Mit dem Entwurf einer "Kosmischen Erziehung" hat Maria Montessori den Grundstein zu einem bildungstheoretischen Modell ihrer Pädagogik gelegt. Dabei geht es ihr um die pädagogische Umsetzung der schon seit den Griechen bekannten Erkenntnis, dass der Mensch als Mikrokosmos Teil eines kosmischen Ganzen, des Makrokosmos, ist und dass seine Schöpfungsaufgabe darin besteht, an der Verwirklichung eines universellen "kosmischen Plans" mitzuwirken.

Da aber dieser Plan nicht einfach offen vorliegt und wir die uns zukommende Aufgabe nicht schlichtweg aus dem "Buch der Natur" ablesen können, müssen wir uns auf die Suche machen nach den Gesetzen der Natur, den Zusammenhängen und Grundlagen des Lebens, den Folgen unseres Tuns und unseres Lassens und nach Aufgabe und Sinn unseres Daseins.

Dazu bedarf es der erzieherischen Hilfe, die "eine neue Form intellektueller Bildung vermittelt und neue Gefühle der Menschlichkeit kultiviert." Dieser letzte Teil, die Bildung, welche das Studium darstellt, das in den Kinderhäusern und Schulen durchgeführt werden muss, der universelle Lehrplan, der den Verstand und das Gewissen aller Menschen in einer Harmonie vereinen kann, ist es, was wir durch 'Kosmische Erziehung' erreichen wollen" [49]. Die kosmischen "Sensibilitäten" erwachen Montessori zufolge etwa zwischen dem sechsten und zwölften Lebensjahr; sie äußern sich in Form eines tiefen Verlangens nach Wissen um das Was, Woher und Warum aller Dinge und eines ausgeprägten sozialen und moralischen Bewusstseins.

Unsere Antwort darauf muss darin bestehen, den Kindern begreiflich zu machen, dass alles, was ist, sich in Abhängigkeit voneinander befindet und dass jedes Lebewesen innerhalb eines kosmischen Ganzen einen besonderen Auftrag zu erfüllen hat. “Das Insekt, das ausfliegt, seine Nahrung in der Blüte der Pflanze zu suchen, führt unbewusst eine altruistische Aufgabe aus, die Bestäubung der Blüten. Es sichert auf diese Weise die Kreuzung und das Überleben der Pflanzen. Ähnlich führen alle anderen Lebewesen (...) eine ‚kosmische‘ Aufgabe aus.  Jede Art wirkt für das Ganze, und vom Werk eines jeden hängt die Lebensmöglichkeit des Ganzen ab” [51]. Dasselbe gilt auch für die Menschen, auch sie hängen in einer Weise voneinander ab, dass “jeder zur Existenz aller beitragen muss” [52].

Eine weitere Aufgabe der kosmischen Erziehung ist es, in den nachkommenden Generationen das Bewusstsein zu erzeugen, dass Wissen allein nicht genügt, schon gar nicht die Anhäufung isolierten Einzelwissens, sondern dass es auf die Zusammenschau der Dinge ankommt. Im Zusammenhang damit müssen die Vorstellungskraft und das Gewissen als ethische Verankerung ausgebildet werden. Eine große Bedeutung kommt auch der Ausbildung und Ausdifferenzierung der Empfindung zu. Nur dann, wenn wir beispielsweise selbst die Auswirkungen unseres Handelns auf die Umgebung empfinden, können wir sie in ihrem ganzen Ausmaß begreifen und Verantwortung dafür übernehmen. “Daher ist es unser Ziel, das Kind nicht nur zum bloßen Verstehen zu führen, und noch weniger, es zum Auswendiglernen zu zwingen, sondern seine Phantasie anzustoßen, sodass es sich zutiefst begeistert. Wir wollen keine selbstzufriedenen Schüler, sondern leidenschaftliche; wir trachten, lieber Leben in das Kind zu säen als Theorien und ihm bei seiner geistigen, emotionalen wie auch physischen Entwicklung zu helfen. Dazu müssen wir dem menschlichen Geist große und erhabene Ideen anbieten, dem Geist, der immer bereit ist, sie zu empfangen, und immer mehr verlangt” [53].

Auf welche Weise kann sich dies entwickeln? Montessori gibt darauf zwei Antworten. Die Erste lautet: "Das Kind müsste alles, was es lernt, lieben, weil seine geistige und seine gefühlsmäßige Entwicklung miteinander verbunden sind". Die einzige Bedingung dafür ist "die Freiheit zu handeln in einer vorbereiteten Umgebung, in der das Kind auf intelligente Weise aktiv sein kann" [54]. Ein äußerst hilfreiches Mittel ist dabei die genetische und die systemische Methode: "Das Kind hat größeres Gefallen an allen diesen Gegenständen und lernt sie leichter", wenn man ihm zeigt, wie die Welt, die Natur, der Mensch die einzelnen Bereiche der Kultur usw. entstanden sind [55]. Und sein Interesse wird umso lebendiger bleiben und sich umso eher allen Dingen zuwenden, je mehr ihm ein "Bild des Ganzen" geboten wird.

Darum lautet die zweite Antwort Montessoris: Dem Kind eine "Vorstellung vom Ganzen" geben [56]. Denn "Einzelheiten lehren bedeutet Verwirrung stiften. Die Beziehung unter den Dingen herstellen bedeutet Erkenntnisse vermitteln" [57]. Hat man dem Kind eine Vorstellung vom Ganzen gegeben, kann man ihm zeigen, wie jedes Detail Teil eines Ganzen ist. "Daraus folgt eine Art Studienplan, der sich so umreißen lässt: Das Ganze geben, indem man das Detail als Mittel gibt"  [58]. Doch dazu bedarf es der Fantasie, die damit zur "Grundlage des Geistes" [59] wird. Zwar anerkennen viele Lehrer*innen die Wichtigkeit der Fantasie, "aber sie möchten sie getrennt von der Intelligenz bilden, gerade so, wie sie diese von der Aktivität der Hand trennen wollen" [60]. Das jedoch kommt einer Vivisektion, einem chirurgischen Eingriff am lebendigen Menschen gleich und führt dazu, dass der Geist "langsam, aber sicher träge und unfähig zu höheren Beschäftigungen" [61] wird. Wollen wir daher Intelligenz und Vorstellungskraft gemeinsam bilden, müssen wir beim Detail beginnen und gleichzeitig die Beziehung zum Ganzen herstellen.

"Die Sterne, die Erde, die Gestirne, alle Formen des Lebens bilden in enger Beziehung untereinander ein Ganzes; und so eng ist diese Beziehung, dass wir keinen Stein begreifen können, ohne etwas von der großen Sonne zu begreifen! Keinen Gegenstand, den wir berühren, ein Atom oder eine Zelle, können wir erklären ohne Kenntnis des großen Universums. Welche bessere Antwort können wir diesen Wissensdurstigen geben? Es wird sogar zweifelhaft, ob ihnen das Universum genug ist. Wie ist es entstanden, und wie wird es enden? Es erwacht immer größere Neugier, die nie gesättigt werden kann. Sie wird ein Leben lang andauern" [62]. Darum ist die Einsicht in "die Wechselbeziehung aller Dinge" für Montessori "das fundamentale Bildungsprinzip" [63].

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