Absorbierender Geist

Ein von der modernen Entwicklungstheorie noch wenig beachtetes, jedoch für die Pädagogik höchst bemerkenswertes Phänomen ist die besondere Art der Lernfähigkeit des Kindes. Maria Montessori spricht von einer “privilegierten Geistesform”, die sich von der des Erwachsenen erheblich unterscheidet und die sie als “absorbierenden Geist” bezeichnet [9]. Das beste Beispiel für dessen Wirkweise ist der Spracherwerb des Kindes. Das Kind, das seine Intelligenz erst aufbauen muss, kann Sprache nicht lernen, indem es sich Wortschatz und grammatikalische Regeln aneignet. Vielmehr assimiliert es die Sprache ganzheitlich, “in ihrer Totalität”, sagt Montessori [10], ohne Differenzierung zwischen Syntax, Semantik und Phonetik. Bereits im Alter von zwei bis drei Jahren beherrscht das Kind die Muttersprache nahezu perfekt, ohne je Sprachunterricht erhalten zu haben.

Was für den Spracherwerb gilt, gilt analog auch für die Aneignung der übrigen Bereiche der Kultur: “Nach wiederholten Versuchen erlangten wir die Gewissheit, dass alle Kinder ohne Unterschied die Fähigkeit besitzen, Kultur zu ‚absorbieren‘. Wir konnten beobachten, wie das Kind (im Alter zwischen drei und sechs Jahren) weit mehr als Lesen und Schreiben ‚absorbierte‘: Botanik, Zoologie, Mathematik, Geografie erlernte es gleichermaßen leicht, spontan und ohne Anstrengung.”  [11]
Während sich das Kind unbewusst die Kultur aneignet, baut es zugleich seine Personalität auf. Das Kind als Baumeister des Menschen, bildet sich, “indem es seine Umwelt absorbiert”. [12]

Etwa ab dem vierten Lebensjahr wird die unbewusste, absorbierende Tätigkeit des Geistes durch bewusste Aktivität ergänzt. Sie verschwindet zwar nicht gänzlich. Aber sie verliert den Charakter der Ausschließlichkeit. Nun beginnt das Kind bewusst zu handeln und die Welt gezielt zu erobern. Aus dem “unbewussten Schöpfer” wird ein “bewusster Arbeiter”. [13]
 

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